Wenn ich in der Laufbahnberatung die Schüler unter meinen Klienten frage, „warum bist du hier?“ bekomme ich sehr häufig als Antwort „Ich weiß gar nicht, was zu mir passt, was eigentlich meine Stärken sind“.
Dass junge Menschen noch nicht genau wissen, was sie können, überrascht nicht.
Aber auch für Berufserfahrene ist das Erkennen der eigenen Stärken nicht immer leicht. So konfrontierte mich unlängst mein Coachee mit dem Satz: „Wenn ich nur wüsste, was ich eigentlich gut kann. Ich mache ja seit Jahren das Gleiche“.
Seine eigenen Stärken zu kennen bzw. diese herauszufinden ist somit ein Problem, das verschiedene Altersklassen betrifft.
Dass das Benennen der eigenen Stärken nicht leichtfällt, hat sicherlich auch damit zu tun, dass dies selten in unserem System gefördert wird. Vielmehr haben wir vielleicht noch den Spruch „Eigenlob stinkt“ oder ähnliches im Kopf. Unser Schulsystem ist eher darauf ausgerichtet, unsere Schwächen in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen und auch bei unserer täglichen Arbeit ist positives Feedback möglicherweise eher selten.
So liegt es an dir, dir die Zeit zu nehmen und dich wie ein Detektiv auf Spurensuche zu begeben. Das ist nicht immer leicht und geht auch selten schnell. Aber meine Coachees sind immer wieder überrascht, wie viele Stärken letztlich doch zusammengetragen werden.
Was sind Stärken?
Zunächst möchte ich kurz erklären, was Stärken eigentlich sind. Stärken sind Talente und persönliche Fähigkeiten. Möglich, dass diese bereits schon immer in dir angelegt waren und du sie in deinem Leben nach und nach genutzt und verbessert hast. So konntest du vielleicht schon als Kind gut mit Sprache umgehen. Aber erst durch stetiges Lesen und Schreiben von Texten hast du schließlich ein sehr hohes Level in diesem Bereich erreicht.
Möglich ist aber auch, dass du zunächst etwas mühsam erlernen musstest, um es schließlich nach und nach zu perfektionieren. So warst du vielleicht ein eher ruhiges und stilles Kind. Irgendwann hat es dich geärgert, nicht gehört und gesehen zu werden und du hast allen Mut zusammengenommen, kommunikativer zu werden. Das hat dir schließlich so viel Freude gemacht, dass du heute als guter Redner bekannt bist.
Wie erstellt man eine Lebenslinie?
Um dich bei deiner Stärkenfindung zu unterstützen, möchte ich dir eine Methode vorstellen, die dir neben den gängigen Ansätzen zu diesem Thema, wirklich weiterhilft. Mit Hilfe einer Lebenslinie und dem daraus folgenden Blick auf dein bisheriges Leben wird es dir möglich sein, ganz neue Stärken von dir zu entdecken.
Dafür benötigst du zunächst ein Din-A4-Blatt, auf dass du im Querformat ein Koordinatensystem zeichnest. Die X-Achse dient dazu, die eigenen Lebensjahre darzustellen. Bitte zeichne darauf in regelmäßigen Abständen Punkte, die sich im Rhythmus von 7 Jahren bewegen. Das heißt, der erste Punkt steht für dein 7. Lebensjahr, der nächste für dein 14, dann dein 21. und so weiter, bis du dein jetziges Alter erreicht hast.
Auf der Y-Achse markierst du eine Skala in regelmäßigen Abständen von 1 – 10.
Was ist dir in deinem Leben gut gelungen?
Nimm dir nun bitte die Zeit, zunächst darüber nachzudenken, wann dir in deinem Leben etwas besonders gut gelungen ist und/oder du sehr glücklich warst und überlege anschließend, mit welcher Punktzahl du diese Zeit auf deiner Glücksskala der Y-Achse wie bewerten möchtest.
War es so ein tolles, unbeschreibliches Gefühl, dass du es mit einer 10 bewerten würdest oder eher einer 7 oder 8? Überlege also bei jedem besonderen Moment, der dir eingefallen ist, wie du ihn skalieren möchtest.
Setze schließlich ein Kreuzchen dorthin, wo sich beide Aspekte treffen.
Beginne mit deinen ersten sieben Lebensjahren.
An diese Jahre haben viele wenige oder nur verschwommene Erinnerungen. Dann ist das so und du lässt diese Zeit unkommentiert. Ich erinnere mich aber an eine Klientin, die diese Zeit häufig bei den Großeltern verbracht hat, weil ihre alleinerziehende Mutter arbeiten musste. Sie empfand diese Zeit als unglaublich bereichernd, weil sie bei den Großeltern im Mittelpunkt stand und diese ihr zeigten, was es heißt, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu haben.
Überlege für den nächsten Zeitabschnitt, was dir in Erinnerung geblieben ist. Was ist dir in deiner Grundschulzeit gelungen? Vielleicht ein besonderer Auftritt bei einer Schulaufführung, vielleicht ein erster sportlicher Erfolg? Viel zu schnell vergessen wir diese Momente, deshalb grabe einmal etwas tiefer.
Gab es in deiner anschließenden schulischen Laufbahn Erfolge, Sprachprüfungen, ehrenamtliche Tätigkeiten wie die eines Schülersprechers, von denen du heute sagst, das ist mir gut gelungen und ich erinnere mich noch, wie glücklich ich damals war?
Betrachte nun den Zeitraum, in dem du dich mit deiner beruflichen Zukunft beschäftigt hast. Welche Ausbildung oder welches Studium hast du absolviert und wie ging es dir damit? Was waren deine Erfolgsmomente?
Natürlich sind es nicht nur Momente, die uns glücklich machen. Vielleicht erinnerst du dich auch an Projekte, die dir besonders viel Freude gemacht haben, weil du ein tolles Team um dich hattest. Vielleicht fühltest du dich glücklich, weil es dir gelungen ist, andere zu motivieren, zu inspirieren.
Wie ist dein Berufsleben verlaufen? Wann hast du dich besonders stark gefühlt? Wann hattest du das Gefühl, andere sind auf dich aufmerksam geworden, haben dir Anerkennung gezollt oder gesagt „Das ist dir wirklich gut gelungen“?
Welche Krisen hast du durchlebt?
Und nun möchte ich dich bitten, einmal genau in die andere Richtung zu denken.
Wann ist es dir in deinem Leben schlecht ergangen? In welchen Situationen hast du gedacht, wie komme ich da bloß wieder heraus? Wie werde ich das wohl meistern?
Da können dir durchaus auch Situationen in der Kindheit einfallen. Gerade in dieser Zeit erleben wir manches, was als unschöne Erinnerung zurückbleibt. Vielleicht ein Lehrer, der dich vor der ganzen Klasse der Lächerlichkeit preisgegeben hat oder ein Freund, der dich – als du ihn brauchtest – im Stich gelassen hat.
Vielleicht gab es auch in der Pubertät Zeiträume, in denen dir das notwendige Selbstbewusstsein fehlte oder du Schwierigkeiten hattest, in deiner Peergroup zu bestehen. Gab es Situationen, die dir heute noch einen Schauer über den Rücken jagen?
Wie hast du die Zeit vor dem Abitur erlebt? War das eine Zeit des Grauens, weil du dir große Sorgen gemacht hast, ob du den Anforderungen genügen wirst? Hattest du im Studium Probleme und musstest eine Prüfung im 3. Versuch schaffen?
Hat man dir gekündigt, obwohl du der Ansicht bist, immer dein Bestes gegeben zu haben?
Überlege auch hier jeweils, wo die Punkte auf deiner Zeitskala anzusetzen sind und skaliere auch diese Momente in entsprechender Höhe der Y-Achse. War es der schlimmste Moment, den du dir vorstellen kannst, dann wähle die 1. Oder war es doch eher die 3 bzw. die 4?
Wenn du diese Aufgabe vollständig erledigt hast, dürftest du nun ein Blatt vor dir liegen haben, in denen du verschiedenste Kreuze vor dir siehst. Eine solche Lebenslinie ist nie ausschließlich waagerecht bzw. befindet sich auf einem Level. Vielmehr zeichnen sich sämtliche Lebenslinien, die ich bisher sehen durfte, dadurch aus, dass das Leben Höhen und Tiefen vorhält.
Welche Stärken zeichnen dich aus?
Und jetzt kommen wir zu den eigentlichen spannenden Fragen:
Welche Stärken hast du angewendet, um die von dir gekennzeichneten Momente bzw. Phasen des Glücks zu erreichen? Welche deiner Fähigkeiten haben dazu beigetragen, dass du deine Ziele erreicht hast?
Warum durftest du als Kind die Hauptrolle im Theaterstück übernehmen? Vielleicht konntest du besonders gut auswendig lernen oder hattest ein besonders offenes Wesen, dass dir das Agieren auf der Bühne besonders leicht gemacht hat.
Warum hat das Ehrenamt bei dir so ein Glücksgefühl erzeugt? War es der Zusammenhalt der Gruppe oder deine Stärke, dich und andere gut zu organisieren? Hast du dich durch besondere Empathie ausgezeichnet?
Damals, als dein Chef dir das schwierige Projekt übertragen hat und du es kaum glauben konntest, dass er dich ausgesucht hatte: Was hat deinen Chef dazu bewogen, dir die Verantwortung zu übertragen? Deine Fähigkeit, schnell Entscheidungen treffen zu können?
Versetze dich bei deiner Stärkensuche auch immer wieder mal in die Position der anderen und überlege, welche Stärken sie bei dir wohl gesehen haben könnten. Was hat dich von anderen unterschieden?
Krisen überwinden – wie schaffst du das?
Und jetzt fragst du dich vielleicht, gut und schön, aber was ist mit den Zeiten, in denen es mir schlecht ging, die auf meiner Y-Skala ganz unten liegen? Welche Stärken soll ich darin erkennen?
Wie bereits erwähnt, gibt es keine Lebenslinie, die sich nur auf einem Level befindet. D.h. nach der Zeit, in der es dir schlecht ging, kam sicherlich auch wieder eine Zeit, in der du langsam aus deinem Tief herausgekommen bist und wieder Erfolge feiern durftest. Und jetzt kommt das entscheidende: Wie hast du das geschafft? Welche deiner Ressourcen haben dir geholfen, schlechte Zeiten zu überwinden, dich ins Handeln gebracht und schließlich wieder in ein freudvolles Leben geführt?
So hat manch einer, der Sorge hatte, im 3. Prüfungsversuch zu scheitern, es schließlich doch noch mit viel Disziplin und Fleiß geschafft, diese Hürde zu überwinden.
Oder es ist dir nach der Kündigung schnell wieder gelungen, einen neuen Job zu finden, weil du für dein Talent zum Netzwerken bekannt bist und du so dein Anliegen weiter streuen konntest.
Ergebnisse sammeln und nutzen
Wenn du alle deine Stärken und Fähigkeiten, die du im Rückblick auf dein bisheriges Leben erkannt hast, schließlich in eine Liste einträgst, wirst du sicherlich auf einige stoßen, die dir bisher noch gar nicht bewusst waren.
Nun kannst du sie zum Abschluss noch clustern. Ordne deine Stärken jeweils den vier Gruppen zu:
- Fachkompetenzen (z.B. im Bereich Statistik)
- methodische Kompetenzen (z.B. präsentieren mit PowerPoint)
- soziale Kompetenzen (z.B. Teamfähigkeit) sowie
- persönliche Kompetenzen (z.B. Ausdauer).
Das Clustern unterstützt dich dabei zu sehen, in welchem Bereich du besonders viele Stärken vorzuweisen hast.
Frage dich anschließend, in welchen Berufsbereichen deine Stärken besonders gesucht sein dürften bzw. du sie anwenden kannst.
Ich bin mir sicher, dass dich deine Lebenslinie wesentlich bei der Stärkenfindung unterstützt und falls du erfahren möchtest, welche weiteren Erkenntnisse du aus deiner Linie noch ziehen kannst, melde dich gerne bei mir.